Der Greif am Morgenrot

Es war in den Tagen, als die Schatten noch dicht über den Gipfeln der Nebelberge hingen. Ich hatte eine lange Nacht hinter mir, ein Lied gesungen in einer Schenke von Eryndral, und meine Füße trugen mich hinaus in die Kälte des Gebirges. Dort, wo die Winde heulen wie Stimmen der Toten und die Pfade schmal wie Klingen sind, suchte ich nur Stille.

Der Morgen brach zögerlich an. Der Himmel war noch schwarz, durchzogen von grauen Schwaden, als ein erster Strahl in die Schluchten fiel. Ich setzte mich auf einen Felsvorsprung, die Laute neben mir, und lauschte dem leisen Knirschen des Schnees unter meinen Stiefeln. Da geschah es.

Ein Rauschen erhob sich – nicht wie Wind, nicht wie Sturm. Es war tiefer, kraftvoller, als schlüge eine Seele selbst mit Flügeln. Ich hob den Blick, und über dem Grat der Berge erhob er sich: ein Greif, majestätisch, von Morgenrot umflossen. Sein Gefieder glühte wie Silber, seine Schwingen schnitten den Himmel. Kein Mensch hätte singen können, wie sein Schrei die Felsen erzittern ließ – ein Ruf, der Dunkel und Licht zugleich durchbrach.

Ich schwöre bei meinem Lied: In jenem Augenblick flohen die Schatten, die Täler wurden klar, und selbst der Schnee glitzerte, als sei er aus Funken des Lichts gemacht. Der Greif drehte eine weite Bahn, blickte hinab, und für einen Herzschlag lang trafen seine Augen die meinen. Mir war, als ob ein Schwur in mein Herz gebrannt wurde – nicht in Worten, sondern in Klang, reiner und gewaltiger als jedes Lied.

Dann stieg er höher, über die Gipfel hinaus, und verschwand im goldenen Glanz der Sonne. Zurück blieb nur der Wind, der sein Echo trug.

Seit jenem Morgen weiß ich: Der Greif ist kein bloßes Wappentier, wie es die Banner tragen. Er ist das lebendige Symbol des Schwurs. Wer ihn sah, trägt seine Pflicht für immer. Und wenn eines Tages der Schatten wieder mächtiger wird, dann wird er erneut emporsteigen – im Morgenrot, um uns an unsere Treue zu erinnern.

- Aus den Notizen Lyrenor's